Man war quasi schon überhaupt kein Mensch

Kreis-Anzeiger, 22.08.2017

LIMESSCHULE Zeitzeugen aus Polen berichten von den Schrecken des Nazi-Regimes / Verein Zeichen der Hoffnung vermittelt diese authentischen Geschichtsstunden

ALTENSTADT – (red). Im September 1944 wurde Tadeusz Kowalski im Zug nach Auschwitz transportiert, nachdem Wehrmacht und Gestapo seinen polnischen Heimatort umstellt hatten. Zu diesem Zeitpunkt war Kowalski 17 Jahre alt. Er überlebte die Jahre der Gewalt und Verfolgung, die mit der Befreiung vom Nationalsozialismus durch die Alliierten endete. Tadeusz Kowalski (91) spricht heute über seine Erinnerungen, um gegen das Vergessen anzukämpfen. „Damit das, was wir erlebt haben, nie wieder passiert.“ Daher engagiert er sich seit mehreren Jahren für den Verein „Zeichen der Hoffnung“ (ZdH), ein Versöhnungswerk der evangelischen Kirche in Deutschland mit dem Motto „Für eine bessere Zukunft von Polen und Deutschen“.

Zusammen mit zwei weiteren Zeitzeugen aus Polen besuchte Tadeusz Kowalski die Altenstädter Limesschule, um mehr als 100 Schülern der gymnasialen Oberstufe zu vermitteln, was damals wirklich geschehen ist.

Die polnischen Gäste berichteten von den Lebensumständen und von alltäglichen Situationen in der Nazi-Zeit, von den Entbehrungen und vom rechtlosen Leben der Häftlinge. Ihr Schicksal zeigt die unerbittliche Härte, mit der die Nationalsozialisten ihren Rassenwahn durchzusetzen versuchten: „Man war quasi schon überhaupt kein Mensch.“

Auch Bogdan Chrześciański gehörte zur Delegation, die den Jugendlichen aus ihrem Leben berichtete. Der 72-Jährige wurde am 7. Januar 1945 in Auschwitz-Birkenau geboren. Im Gegensatz zu vielen anderen Kindern überlebte er – dank der Hilfe mehrerer Mütter, deren Kinder bei oder nach der Geburt im KZ starben oder nach der Geburt ermordet wurden. Seine schwangere Mutter und ihr Mann wurden im August 1944 im Rahmen des Warschauer Aufstandes verhaftet und nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Die Eltern wurden bei der Selektion getrennt. Der Vater wurde später auch in das KZ Natzweiler-Struthof deportiert, wo er am 4. Januar 1945 starb. Bogdan Chrześciański wurde am 27. Januar zusammen mit seiner Mutter in Auschwitz befreit.

Eine weitere Zeitzeugin war Krystyna Gil, die als 5-Jährige Mädchen miterleben musste, wie am 3. August 1943 deutsche Truppen das südpolnische Dorf Szczurowa umstellten, über 90 dort lebende Roma – Männer, Frauen und Kinder – zusammentrieben und sie auf den Friedhof ermordeten. 54 der Ermordeten waren aus ihrer Familie. Nur mit der Hilfe von anderen konnte sie sich verstecken. Auf solche Hilfe stand die Todesstrafe. „Jeder Tag, den ich überlebte, war ein Glückstag“, sagte Gil mit starrem Blick ins Publikum.

Die Schilderungen der unmenschlichen Bedingungen trugen die Zeitzeugen so distanziert und nüchtern wie möglich vor. „Für sie ist es jedes Mal eine starke emotionale Belastung. Die Erinnerung versetzt sie in diese schreckliche Zeit zurück“, weiß Daria Schefczyk, die Geschäftsführerin des Vereins ZdH ist und die Vorträge übersetzte. Einiges verstanden die Zuhörer auch ohne Worte.

Die Gäste ermutigten ihre Zuhörer, Fragen zu stellen. Eine Frage, die auch der 91 Jahre alte Zeitzeuge Tadeusz Kowalski immer wieder hört, ist die nach der Möglichkeit für die noch lebenden Opfer, ihren ehemaligen Peinigern zu vergeben. Auch mögliche Sorgen angesichts wachsender rechtspopulistischer und nationalistischer Agitation in Europa wurden thematisiert.

„So habe ich das noch nie gehört, auch wenn wir darüber im Unterricht bereits gesprochen haben. Mich haben die Erlebnisse von Herrn Kowalski sehr berührt und nachdenklich gemacht“, zeigte sich Schülerin Jessica von der besonderen Geschichtsstunde beeindruckt.

Zu Beginn der Veranstaltung hatte Schulleiterin Gaby Küster unterstrichen, wie wichtig für die Schüler die Möglichkeit sei, über das Lernen des Unterrichtsstoffes hinaus Geschichte durch solche Gesprächsrunden authentisch zu erfahren.